Je mehr ich die Auswirkungen des Klimawandels spüre, desto mehr denke ich an sorglosere Zeiten zurück. Zuletzt an einen Arbeitseinsatz auf einem Biobauernhof in England.
Letzten Sommer war ich mit zwei Freundinnen in der Surselva. Es war eines dieser sengend heissen Wochenenden und wir hatten gehofft, der Stadthitze entfliehen zu können.
Am ersten Tag gingen wir wandern und hielten uns mit blöden Witzen bei Laune, denn die Hitze war auch in den Bergen unerträglich. Am Abend waren wir völlig erschöpft und trotz der rasch abkühlenden Bergluft, des Weins und der funkelnden Sterne über uns, wollte keine gute Stimmung mehr aufkommen. Unsere Gesprächsthemen wurden immer düsterer: Auf Alltagsstress folgten drohende Krankheiten im Alter, dann die Zukunft des Planeten.
Irgendwann kamen wir auf die Hitzewelle in Indien zu sprechen und darauf, dass ab einer bestimmten Temperatur das Blut koaguliert, also dickflüssig wird, die Blutgefässe verstopft und zum Tod führt.
In jener Nacht schlief ich schlecht. Zwischen andere Zukunftssorgen schob sich das Bild koagulierten Blutes. Die Idylle der Bergwelt beruhigte mich nicht, eher schien sie voller böser Vorahnungen zu vibrieren.
Am nächsten Morgen versuchte ich mich abzulenken und blätterte in einer Literaturzeitschrift. Auch hier war der Klimawandel omnipräsent. Thane Gustafsons Buch »Klimat: Russia in the Age of Climate Change« wurde empfohlen, der Autor untersucht in seinem Werk die Auswirkung des Klimawandels auf Russland. Ich lese also über den auftauenden Permafrost in Sibirien, aus welchem Milzbrand-Bakterien von lange verwesten Rentieren in die Nahrungskette gelangen und lebende Herden infizieren, von Methan, das dem Boden entweicht und den Klimawandel befeuert.
Nun habe ich keine Ahnung, wie es anderen Menschen geht, wenn sie über extreme Hitze, Trockenheit, Waldbrände, auftauende Böden und Gletscher lesen, aber in mir hat sich ein Apokalypsegefühl eingenistet, vermischt mit dem schlechten Gewissen, im Elfenbeinturm der Welt zu leben.
Ich ertappe mich immer öfter dabei, wie ich an meine Teenager-Zeit in den Neunzigern zurückdenke, als der Klimawandel, so hatte es geheissen, noch aufhaltbar gewesen wäre. Damals war ich überzeugt, die Menschheit würde bald verstehen, um wie viel es geht. Ich verkrieche mich in diese Vergangenheit, als wäre sie eine schützende Decke. Es ist eine Nostalgie, in der ich mir einbilde, früher in einer Zeit der Euphorie gelebt zu haben. Eine Nostaphorie.
In den späten Neunzigern prägte eine marktwirtschaftliche Neo-Romantik unser Leben. Im Wirtschaftsgymnasium lernten wir die berühmte Handel-bringt-Wandel-Doktrin – und glaubten daran. Das Echo der gefallenen Mauer und die damit einhergehenden Jubelschreie waren immer noch hörbar, genau so der Glaube, Russland und der Westen würden sich anfreunden, die Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten wäre der logische nächste Schritt.
Das für die Masse aufgeschaltete Internet versprach Information, Spass und Verbundenheit für alle – viele von uns Gymnasiast:innen meinten, ein goldenes Zeitalter bräche an. »Die Neunziger waren das letzte Jahrzehnt, in dem man sich noch etwas von der Zukunft versprach«, schrieb Johanna Adorján letzten Frühling im Tagi-Magi. Sie befasste sich mit der damaligen Popkultur.
Und oft war es damals auch die Popkultur, die die Umweltschutzbewegung thematisierte – nicht unbedingt in einem guten Licht. Besonders hoch im Kurs war damals in meiner Bubble englischer Humor, zum Beispiel die Sitcom »Absolutely Fabulous«. Keine TV-Show verdeutlicht für mich besser, wie Umweltaktivismus damals als Kontrast für ein gutes Leben dargestellt wurde. Für alle, die die Serie nicht kennen: Die Hauptfigur ist eine überdrehte, öfters alkoholisierte PR-Karrieristin (Jennifer Saunders), die sich durch ihre moralisch überlegene Öko-Tochter drangsaliert fühlt. Die Freundin der Mutter, stets im Chanelkostüm und bis unter die Stirnfransen zugekokst, (gespielt von Joana Lumley) verbündet sich mit der Mutter gegen die Tochter. Die zwei Freundinnen hangeln von einer Party zur nächsten, fallen betrunken aus Taxis und verheimlichen ihren Drogenkonsum vor der Tochter. Ich liebe diese dekadente TV-Show immer noch. Kürzlich erinnerte mich meine Mutter daran, wie ich ihr in den 90ern wegen eines »versehentlich« gekauften Tropenholz-Tisches die Hölle heiss gemacht hatte und sie in mir grosse Ähnlichkeit mit der Spielverderber-Tochter aus der Serie sehe.
Ich vermute, dieser leichtfüssige Humor kam damals an, weil die Zukunft noch nicht bedrohlich schien, weil Umweltschutz etwas freaky wirkte: ein Hobby für Wohlstandskinder mit einem Hang zu Melancholie, eine Skurrilität inmitten der unendlichen Möglichkeiten dieses leuchtend bunten Neunziger-Karussells.
Heute vermisse ich den Luxus dieser vergangenen Sorglosigkeit, obwohl ich sie schon damals nicht ganz teilte. Am meisten vermisse ich die damaligen Lachanfälle. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch deswegen so gerne an diesen einen Sommer zurückdenke, als ich auf einem Bio-Hof arbeitete.
Ich weiss nicht mehr genau wie das zustande kam, aber meine damalige Schulfreundin Ina* und ich, Stadtkinder mit dem dringenden Bedürfnis, irgendetwas Nützliches zu tun, hatten uns über eine Organisation namens WWOOF für zwei oder drei Wochen Freiwilligenarbeit auf einer Bio-Farm in Südengland angemeldet. Wir strotzten damals vor Energie und Zuversicht. Zumindest bilde ich mir das im Nachhinein ein.
Ich habe mich vergewissert, ob WWOOF noch existiert und wurde schnell fündig: Heute besteht die Organisation aus einem weltweiten Netzwerk aus 132 Betrieben. Laut der Website, die für das Vereinigte Königreich, den Gründungsort, zuständig ist, steht das Akronym für »world wide opportunities on organic farms«. Damals sprach man von »willing workers on organic farms«.
Die Ursprungsidee der 1971 gegründeten Organisation: Stadtmenschen, die keine Ahnung von Botanik haben, werden von Bio-Bauern und Bäuerinnen eingeladen, auf ihrem Betrieb zu arbeiten. Sie kriegen zwar keinen Lohn, dürfen aber auf dem Hof gratis essen und wohnen und lernen im besten Fall etwas über nachhaltiges Bewirtschaften. Sogar auf Samoa, in Matautu Lefaga, kann man einer Familie beim Anbau von Gemüse helfen – man müsste wohl einfach fünf Jahre dort bleiben, um das mit der CO2-Bilanz wieder geradezubiegen.
Unsere Reise begann beinahe mit Tränen meinerseits, da mich niemand informiert hatte, dass man an Grenzen lügen muss. Nach der Überfahrt mit der Fähre von Belgien, betraten wir englischen Boden, ich glaube in Dover. Ina, die einen englischen Pass hatte, stand bereits hinter der Passkontrolle, während ich zurückgehalten worden war.
»Ich komme arbeiten!«, hatte ich dem Zollbeamten stolz gesagt. Dieser hatte grosse Augen gemacht und mich sogleich zurückgehalten. Während meines Gestotters von wegen »it’s an organic farm!«, »free work«, »ähh… kind of charity?«, wandelte sich sein strenger Gesichtsausdruck in väterliches Mitleid. Sein Kollege musterte mich, als wäre ich ein Fabelwesen. Gratisarbeit? Ökofarm? Wer macht den sowas? Sie schüttelten die Köpfe, seufzten und winkten mich durch.
Am Bahnhof der wunderschönen Thermenstadt Bath holte uns ein mürrischer Farm-Mitarbeiter ab: Shane. Er glich einem Börsenmakler im Freizeitlook: frisch rasiert, gebügeltes Hemd, saubere Jeans. Wir erfuhren, dass er Amerikaner ist und es ihn aufgrund einer Lebenskrise nach England verschlagen hatte – wir fragten nicht genauer nach. Er hasse alles, was mit Öko zu tun hat, sagte er sehr bald und entschuldigte sich ohne Unterlass: für das schmutzige Auto, den Gerümpel darin, die maroden Bremsen. Während der Fahrt klapperte und quietschte das Gefährt nonstop, Passantinnen schauten uns nach. So ratterten wir also durch die Strassen der Stadt, dann hinaus durch die sanfte Hügellandschaft der Grafschaft Somerset, während Shane über alles meckerte. Ina und ich amüsierten uns bereits gewaltig: Shane konnte locker mit allen Freaks mithalten, die wir aus Kultfilmen wie »Withnail and I« kannten.
Die Farm lag am Rande eines winzigen Weilers namens Timsbury, wenige Kilometer südöstlich von Bath. Die Landschaft und das Dorf erfüllten sämtliche meiner ästhetischen Ansprüche, die ich damals als Thomas-Hardy-Leserin hatte: grüngoldene Hügel, auf denen sich dichte Hecken voller tschilpender Vögel erstreckten, hier und dort Grüppchen blökender Schafe. Im Dorfkern entzückte mich eine gotische Kirche mitsamt moosüberwachsenem Friedhof. Zwar graut es mir vor Esoterik, würde mir aber jemand erzählen, dass dort Kraftorte schlummern, müsste ich leider zustimmen. Die mittelalterlich wirkende Farm, ein ehemaliges Mühlhaus, gesäumt von niedrigen Mäuerchen, wirkte auf mich sofort vertraut.
Direkt nach der Ankunft standen wir in der schmutzigen Küche, wo sich dreckiges Geschirr stapelte, das Küchentuch aussah, als wäre es fünfzig Jahre nicht gewaschen worden und die Originalfarbe des Bodens nicht mehr erkennbar war. Versiffte Schweizer WGs waren nichts dagegen.
Shane erklärte uns, wie der Tagesablauf etwa vonstatten gehen würde. Irgendwann schlurfte ein Typ durch die Tür und küsste mich sehr beiläufig auf den Mund. Ich stand wie versteinert da. Der zottelige junge Mann werkelte seelenruhig in der Küche rum, erzählte von seinem Tag, als ob wir uns schon jahrelang kennen würden. Schliesslich drehte er sich um, schaute mir ins Gesicht und riss die Augen auf. Der Schock schien echt. Er hatte mich mit seiner Freundin verwechselt. Es folgten überschwängliche Entschuldigungen. Als er wieder abzog, erklärte uns Shane, dass der Typ sich jeden Tag in seinem Wohnwagen mit Drogen aller Art volldröhnte.
Unsere Sorge, die Öko-Bewohner des Bauernhofs würden unser Mitbringsel – mit viel Plastik umwickelte Pralinen – verhöhnen, verflüchtigte sich schnell. Kaum hatten wir uns umgedreht, lag die Schachtel wie ausgeweidet da.
Der Hofbesitzer, Robert, ein dauerbesorgt wirkender Mann in den Vierzigern, zeigte uns später sein Herzensprojekt hinter dem Hof: das geruchlose Kompost-WC. Ich weiss noch, wie er uns einen langen Vortrag über drohende Dürren in der Zukunft hielt und dass wir schon jetzt lernen müssten, mit Wasser sparsam umzugehen. Yadayadayada dachten wir, nickten aber wie eifrige Schülerinnen. Seine Zukunftsszenarien schienen uns eher paranoid.
Seine Frau Heather war eine gutmütige ruhige Frau. Wenn sie uns etwas erklärte, hielt sie die Augen geschlossen und ihre Lider flackerten wild, als müsste sie sich sehr fest anstrengen. Ausserdem gab sie ihrer dreijährigen Tochter, die überall auf der Farm rumrannte, noch die Brust. Ina und ich fanden das verstörend. Differenziert denkende Feministinnen waren wir mit unseren etwa siebzehn Jahren noch nicht. Überhaupt war »wäh!« wohl einer unser am häufigsten verwendeten Ausrufe.
Unser Zimmer war erholsam sauber, schlicht wie eine Mönchskammer, kein Schnickschnack, nur Matratzen auf dem Boden, dafür mit Aussicht auf die liebliche Landschaft.
Allmählich lernten wir die Bewohner und Bewohnerinnen kennen. An der Tür eines benachbarten Zimmers prangte ein Plakat: »The Sexgod« stand dort in psychedelischem Design. Dort wohnte zum Beispiel Tim, der bei den Schweinen arbeitete. Zugegeben, er sah wirklich sehr sexy aus, ähnlich wie Slash von den Guns N’ Roses. Nur verströmte er im Umkreis von zehn Metern einen beissenden Schweinegestank und wie er selbst gerne erklärte, badete er aus Prinzip nur einmal in der Woche. Sein Ritual sollten auch alle mitbekommen – während das Wasser in die Wanne plätscherte, spielte er auf seiner Gitarre und sang.
Jeden Morgen nach dem Frühstück versammelten wir uns vor dem Hof und die Chefin oder der Chef teilten uns Aufgaben zu. Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Gruppe. Ina und ich, ein sympathischer Franzose, Stéphane, der in unserem Alter war, ein paar eigenbrötlerische Hippies, die in den Wohnwagen neben dem Hof lebten – daneben Bioskeptiker Shane, immer sauber gekleidet.
Jede Aufgabe hatte so seine Tücken. Bis jetzt erinnere ich mich daran, dass mir vom intensiven Tomatengeruch im Gewächshaus schlecht wurde. Einmal sammelten wir Spinatblätter – viel zu fleissig, wie sich herausstellte. «Zu dicht gepackt!», ermahnte uns der Mitarbeiter, »nehmt’s mal locker«. Wir hatten wohl eine zwinglianische Arbeitsmoral nach England mitgebracht.
Es war wohl auch unsere schweizerische Übereifrigkeit, die uns eines Tages nachfragen liess, ob es so was wie einen Putzdienst im Haus gäbe. »Klar«, sagte Tim, der Sexgott, und nannte uns das Datum für unseren Einsatz. Wieder waren wir froh, uns nützlich zu machen und putzten am besagten Tag mit grosser Leidenschaft, saugten zentimeterdicken Staub, kratzten Dreck weg, und waren ganz glücklich, als die anderen anerkennend mit dem Kopf nickten.
»Das mit dem Putzdienst war übrigens ein Witz«, sagte uns Tim später, »natürlich gibt es so was bei uns nicht«. Ich weiss nicht mehr, wie wir damals darauf reagiert haben, aber heute kommen mir immer noch die Tränen vor Lachen.
Nach einigen Tagen Idylle wurde uns klar, dass Chef Robert auch eine jähzornige Ader in sich hatte. Nie gegen uns, aber zum Beispiel gegen das Bewässerungssystem – es trieb ihn zur Weissglut. Das ging so: Alle paar Stunden wurden Leute, die auf dem Feld arbeiteten, zusammengetrommelt, um das filigrane Röhrensystem, das sich eine Feldlänge erstreckte, in die Höhe zu heben und ein paar Meter weiter zu tragen. Jedes Mal brach irgendwo ein Teil ab und Robert fluchte jeweils so laut und furios, dass alle erbleichten und zittrig wurden. Jede und jeder betete, das Teil, für das man selbst verantwortlich war, möge nicht auseinanderbrechen. Aber es traf immer jemanden. Und so standen dann alle betroffen rum und starrten auf den Boden oder eben in die Röhre, während Robert die Teile unter Gezeter und vielen »Fucks« wieder zusammensteckte und über den Hersteller fluchte. Meine härteste und schwierigste Aufgabe bestand darin, Ina jeweils nicht anzuschauen, da wir sonst vor Lachen geplatzt wären. Die immense Wut des Chefs schien uns vollkommen absurd, denn die Rohre liessen sich mühelos wieder zusammenstecken.
Die Abendessen waren am schlimmsten. Das Ärgernis mit den Bewässerungsrohren wurde dort vom Chef wiederholt angesprochen und er fluchte weiter, während wir und die Hippies auf unsere Teller schauten. Ina und ich versuchten jeweils besonders schnell fertig zu essen, damit wir in unser Zimmer rennen konnten, um alle erlebten Absurditäten abzulachen. Unser Zimmer lag genau über der Küche, wahrscheinlich bekam die schweigsame Gruppe unser Hyänengelächter mehr als einmal mit.
Die meisten Aufgaben, die uns aufgetragen wurden, waren recht vergnüglich, mal sammelten wir stundenlang Erdbeeren, jäteten oder ernteten Knoblauch. Routine stellte sich selten ein, da für uns alles neu war und überall Überraschungen warteten.
Eines Tages, als wir vollgeschwitzt, mit erdverkrusteten Händen nach Hause in die Farm spazierten und uns auf eine Dusche freuten, war kein Wasser mehr da. Leitung kaputt, wurde uns mitgeteilt. So mussten wir ins Dorf fahren, um uns wenigstens mit Trinkwasser einzudecken. Dreckig aber irgendwie glücklich, tausend mal »wäh« sagend, schliefen wir schliesslich ein. Am nächsten Tag war alles repariert und mir wurde dort bewusst, was für eine luxuriöse Sache so eine funktionierende Dusche eigentlich ist.
Irgendwann während unseres Aufenthalts pinkelte die Tochter der Besitzer in der Küche auf den Boden. Aus den Augenwinkeln beobachteten Ina und ich, dass das ranzige Küchentuch verwendet wurde, um alles wegzuputzen. Ab da beobachteten wir das Tuch intensiv. Wo war es? Würde es irgendjemand waschen? Damit Geschirr abtrocknen? Wir waren gespannt wie David Attenborough beim Beobachten eines Iguanas.
Ein Highlight unseres Aufenthalts war unsere Kurzreise ins nahegelegene Städtchen Glastonbury, der Festival- und New-Age-Hochburg, wo wir auf dem Markt unser Gemüse verkaufen durften. Newton, ein sehniger hochgeschossener Hippie mit Dreadlocks, der nur einen kurzen Batik-Rock um seine Lenden trug, fuhr uns mit einem kleinen Lastwagen dorthin.
Das Verkaufen auf dem Markt stellte sich als lustige, aber auch komplizierte Sache heraus. Wir kapierten das mit den Pounds und Ounces nicht immer auf Anhieb und entschuldigten uns ständig unterwürfig bei der Kundschaft. Wir seien eben aus der Schweiz, war unsere Ausrede. Das kam meistens sehr gut an – die Kundinnen fanden uns putzig. Und Stress herrschte auf dem Markt sowieso nicht – an solchen Kraftorten nimmt man es eher leger.
Im Verlauf des Tages liess uns Newton immer öfter allein. Als ich schnell auf Toilette musste und den Stand Ina überliess, entdeckte ich, was er tat: Er war in einem wilden Zungenkuss mit einer Kundin von vorhin vertieft. So ging es dann bis in den Nachmittag weiter. Kundinnen kamen am Stand vorbei und Newton verschwand mit ihnen im Gebüsch. Ina und ich fanden das so skandalös wie grossartig.
An einem anderen Tag fuhren wir mit Stéphane und Shane nach Bath, um dort ein Bier zu trinken. Die Stimmung in unsere Vierergruppe war etwas hölzern, darum versuchte Stéphane uns einen klugen französischen Witz zu erzählen. Sein Englisch war nicht einmal schlecht, aber niemand von uns verstand die Pointe. Mit aller Energie versuchte er uns den Witz zu erklären, was ihn aber umso unlogischer, flacher und unlustiger machte. Am Schluss heulten wir alle vor Lachen.
Das »Wäh«-Highlight erlebten wir gegen Schluss unseres Aufenthalts. Wie jeden Tag standen wir in der Küche herum, machten Tee und bestaunten den Dreck. An jenem Tag bereitete die Chefin mit viel Liebe einen Braten vor, ich glaube einen Truthahn. Ina und ich fühlten uns davon nicht betroffen, da wir Vegetarierinnen waren. Geraume Zeit später waren wir wieder in der Küche und staunten nicht schlecht, als wir sahen, was auf dem Braten lag: das Küchentuch.
Seltsamerweise kann ich mich im Nachhinein nicht erinnern, mit welchen Gefühlen ich nach diesem Aufenthalt Zuhause angekommen war: happy, ausgelaugt, voller Energie?
Ich weiss nur, dass diese Erinnerungen mich heute kurzzeitig aufatmen lassen. Denke ich länger über diesen Sommer nach, möchte mich zurückbeamen und Robert mit seinem Kompost-WC auf die Schulter klopfen. Und ich möchte auch in diese fluffige 90er-Wolke reinschreien, in der Mineralölkonzerne wie Exxon mit ihren Relativierungskampagnen über den Klimawandel die USA aktiv daran hinderten, 1998 das Kyoto-Protokoll zu unterschreiben, das immerhin verbindliche Zielwerte für den Treibhausgas-Ausstoss festgelegt hätte.
Zu viel Nostalgie ist selten eine konstruktive Sache, da sie die Gegenwart verdrängt und verhindern kann, dass Missstände aktiv bekämpft werden. Während meiner Nostaphorie-Phasen wurde mir aber auch bewusst, wie weit ich mich in den letzten Monaten vom Panikgefühl Richtung Zynismus bewegt hatte – diese taube »es geht sowieso alles vor die Hunde, ich geniess jetzt einfach noch mein Leben«-Haltung, die ich bei anderen immer so verabscheut habe.
Mit dem Hervorkramen meiner Erinnerungen, dem Wiedererleben dieser hoffnungsvolleren Zeit, verschwand für mich die Lust auf solchen Zynismus komplett. Wieso das so ist, kann ich nicht erklären. Vielleicht wurde mir bewusst, dass ich kein Talent für Zynismus habe? Vielleicht ist das meine einzige moralische Lektion aus der ganzen Sache.
Ob ich nun Lust bekommen habe, wieder auf einer Bio-Farm zu arbeiten? Nein, sorry. Nur schon die Vorstellung, jeden Abend mit wildfremden Menschen an einem Tisch sitzen zu müssen, entzieht mir Energie – viel zu fest habe ich mich an mein ruhig dahinplätscherndes Leben gewöhnt.
Jedem unternehmungslustigen und kontaktfreudigen Stadtmenschen empfehle ich jedoch wärmstens, sich bei WWOOF anzumelden. Nichts wird so sein, wie erwartet. Und auch wenn alles schief laufen sollte – irgendwann werden die Erinnerungen einen beglücken.
*Alle Namen geändert
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